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Zur psychotherapeutischen Versorgungslage im hohen Alter

Lina Beck

Zum erfolgreichen Altern gehört eine größtmögliche Aufrechterhaltung der Lebensqualität auch in späteren Lebensphasen. Hierfür ist es wichtig zu beachten, dass die Lebensqualität nicht nur auf dem körperlichen Wohlbefinden basiert, sondern über den Erhalt von körperlichen Fähigkeiten auch die psychosoziale Versorgung eine wichtige Rolle spielt. Denn „Altern wird als ein lebenslanger, funktioneller, komplexer, individueller und mehrdimensionaler Prozess beschrieben.“ (Hirsch, 2021) Mit zunehmendem Alter verändern sich daher auch die Entwicklungsaufgaben und neben einer vermehrten Zunahme an vielfältigen körperlichen Funktionseinbußen kommt es auch zu verschiedenen psychischen Herausforderungen (Kessler & Tegler, 2018; Kinzl, 2013). Gerade bei Hochaltrigen (Menschen, die 80 Jahre und älter sind) kann es in dieser Phase der Veränderung und Reflexion zu psychischen Belastungen kommen. Insbesondere diese Art von Belastung im Alter kann schwere Folgen nach sich ziehen. „[Letztere] gehen mit Funktionseinschränkungen, einer reduzierten Lebensqualität, kognitiven Beeinträchtigungen sowie einer erhöhten Suizidalität und nicht-suizidalen Mortalität einher. Erkrankungsverläufe körperlicher Erkrankungen werden durch komorbide depressive Störungen deutlich negativ beeinflusst.“ (DGGPN, 2015)

Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen über die Lebensspanne hinweg gehört konstant die Depression (Murray & Lopez,  1996; Shadrina et al., 2018). Neben einem gedrückten Gemütszustand können unter anderem auch körperliche Komorbiditäten auftreten (Shadrina et al., 2018; Chirita et al., 2015). Die Lebenszeitprävalenz einer Depression liegt sowohl in nationalen als auch internationalen Untersuchungen bei 16-20 % (Flint & Kendler, 2014). Epistemologische Befunde deuten darauf hin, dass diese Werte auch bei alten und hochaltrigen Personen ähnlich ausgeprägt sind (Fiske et al., 2009; Horackova et al., 2019). Dies sind lediglich die Prävalenzen für Depressionen. Empirische Befunde lassen annehmen, dass etwa zwei Drittel der Einwohner*innen der Europäischen Union, die älter als 65 Jahre sind, von mindestens einer psychischen Störung betroffen sind (Wittchen et al., 2010). Aus diesem Grund sollte auch bei Hochaltrigen das psychische ebenso wie das körperliche und soziale Wohlbefinden gleichermaßen adressiert werden.

Viele Studien deuten darauf hin, dass Psychotherapie dabei hilft, psychische Belastungen zu verringern und somit das subjektive Wohlbefinden zu verbessern (Cuijpers et al., 2019). Auch bei der Behandlung Älterer deutet die empirische Forschung darauf hin, dass Psychotherapie effektiv ist (Driessen et al., 2010; O’Rourke & Hadjistavropoulos, 1997). Generell ist die Psychotherapieforschung bei Hochaltrigen jedoch trotz hoher Prävalenzen noch ein vergleichsweise junges Feld (Kessler et al., 2014) und der aktuelle Wissensstand beruht hauptsächlich auf den Daten Älterer und weniger auf denen von Hochaltrigen (Kessler & Tegler, 2018). Das unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Forschung in diesem Bereich. Grundsätzlich wird in den nationalen Versorgungsleitlinien zur Behandlung psychischer Erkrankungen aufgrund aktueller Evidenzen aber generell eine psychotherapeutische Behandlung von Depressionen empfohlen (Kessler & Tegeler, 2018). Trotz dieser Empfehlung finden sich nur sehr niedrige Behandlungsraten von alten und hochaltrigen Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung (Kinzl, 2013; Gutzmann et al., 2017; Kessler & Tegler, 2018). In Deutschland sind derzeit nur rund 2 % der Patient*innen in psychotherapeutischer Behandlung 65 Jahre oder älter und dass, obwohl allein die Hochaltrigen laut des statistischen Bundesamts 6,8 % der Gesamtbevölkerung ausmachen (Stand 2019). Aus diesen Zahlen lässt sich eine Unterversorgung von Hochaltrigen ableiten. Aber welche Faktoren tragen eigentlich zu dieser Unterversorgung der Alten und Hochaltrigen in der psychotherapeutischen Versorgung bei?

Ein möglicher Grund könnten negative Vorstellungen über das Alter(n) sein. Alter(n)sbilder sind individuelle Vorstellungen und Überzeugungen vom Prozess des Alterns und älteren Menschen, die zu kollektiven Denkmustern im öffentlichen Diskurs beitragen (BMFSFJ, 2010). Sie prägen maßgeblich mit, wie über das Alter, das Altern und ältere Menschen gesprochen wird (Slaby, 2006). Angesichts einer durch Sprache gelebten Praxis aus Sinn- und Bedeutungszuschreibungen können sich negative Alter(n)sbilder manifestieren (Gallistl et al., 2019) und somit zu einer diskriminierenden Einstellung gegenüber älteren Menschen führen (Wurm et al., 2013). So wirkte beispielsweise der Ausspruch Freuds, dass Psychotherapie mit Älteren nur wenig sinnvoll sei, noch lange nach und beeinflusste eine Vielzahl angehender Psychotherapeut*innen (Peters et al., 2013). Noch heute halten Psychotherapeut*innen ältere Patient*innen für weniger therapiefähig als jüngere (Kessler & Blachetta, 2020) –  und das, obwohl die Plastizität des Gehirns nachweislich bis ins hohe Alter erhalten bleibt: zwar nehmen fluide kognitive Fähigkeiten (z. B. die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit) ab dem 60. Lebensjahr ab, jedoch bleiben kristalline Fähigkeiten (z. B. spezifisches Wissen und Lebenserfahrung) auch bis ins hohe Alter erhalten (Kessler, 2014). Allgemein liefern gerontologische Studien Erkenntnisse, die dafür sprechen, dass auch im Alter noch eine Vielzahl an kognitiven Entwicklungspotentialen vorhanden ist (Hirsch, 2021). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) weist im 6. Altenbericht (2010) ferner darauf hin, dass solche negativen Altersbilder „die Verwirklichung von Entwicklungsmöglichkeiten im Alter […] erheblich [erschweren]“ und dies dazu führen kann, dass „Menschen ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschätzen und bestehende Chancen nicht ergreifen“. Menschen würden so „infolge ihres Alters Möglichkeiten vorenthalten werden.“ (BMFSFJ, 2010, o.S.)

Solch eine Altersdiskriminierung findet also nicht nur von außen statt (Kessler, 2014). Vielmehr muss zwischen objektiver und erlebter Altersdiskriminierung unterschieden werden. Dies ist auf die Internalisierung von Alter(n)sbildern im Laufe des Lebens zurückzuführen. Aus Alter(n)sfremdbildern werden mit der Zeit Alter(n)sselbstbilder, was auch als Alters-Selbststereotypisierung bezeichnet wird (Wurm et al., 2013). Internalisierte Alter(n)sbilder können zu einer „sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung“ führen (Kessler & Tegler, 2018). Bei einer solchen wird durch die Zuschreibung bestimmter Attribute und Verhaltensweisen ein Konformitätsdruck geschaffen. Dieser Konformitätsdruck wird durch die zwanghafte Identifizierung mit einer bestimmten Rolle definiert und mündet oftmals in der Ausübung eines erwarteten Verhaltens (Merton, 1948; Asch, 1951). Daraus wiederum folgt eine Anpassung des eigenen Selbstbildes an das eigene Verhalten. So zeigen zum Beispiel Ergebnisse der Studie PSY-CARE, dass --wenn es zu einer Begutachtung bei der Krankenkasse kommt – die Anträge von Älteren nicht häufiger abgelehnt werden, als die von jüngeren Menschen. Es werden schlicht verhältnismäßig wenig Anträge von Älteren und Hochaltrigen auf die Bewilligung einer psychotherapeutischen Behandlung eingereicht. Wenn Menschen also ein negatives oder defizitorientiertes Alter(n)sbild haben, kann dies „nachweislich zu einer ‚sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung‘ [werden], und über die Zeit hinweg die psychische und physische Gesundheit negativ [beeinflussen]“ (z. B. Dutt et al. 2016, nach Kessler & Tegler, 2018). Ältere und Hochaltrige tragen also auch selbst zu der bislang geringen Behandlungsprävalenz bei.

Die Vielfalt des Alter(n)s spiegelt sich in bestehenden Alter(n)sbildern bislang kaum wieder. Und gerade weil Alter(n)sbilder das Altern so maßgeblich mitbestimmen (BMFSFJ, 2010), braucht es eine Verbreitung differenzierterer Alter(n)sbilder. Potentiale, die das Alter bietet, wie Expert*innenwissen und Lebenserfahrung, sollten aufgegriffen werden, um so auch zunehmend die Lücken in der psychosozialen Versorgung von Alten und Hochaltrigen zu schließen. Wie die WHO (1997) in ihrer Definition dazu festhält, wird Lebensqualität nicht nur von der körperlichen Gesundheit, sondern auch vom psychischen Zustand beeinflusst. Für eine größtmögliche Aufrechterhaltung der Lebensqualität auch im Alter und im hohen Alter sollte die psychosoziale Versorgung im Alter nicht weniger Aufmerksamkeit bekommen als in anderen Lebensphasen. Hier bestehen durchaus noch Forschungs- und Versorgungslücken.

 


Quellen:

Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgments. Organizational influence processes, 58, 295-303.

BMFSFJ. (2010). Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland - Altersbilder in der Gesellschaft. Berlin: Deutscher Bundestag.

Chiriţă, A. L., Gheorman, V., Bondari, D., & Rogoveanu, I. (2015). Current understanding of the neurobiology of major depressive disorder. Rom J Morphol Embryol, 56(2 Suppl), 651-8.

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DGPPN, BÄK, KBV, AWMF (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression*. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung, 2. Auflage. Version 5. 2015 [cited: 2022 02 18]. DOI: 10.6101/AZQ/000364. www.depression.versorgungsleitlinien.de.

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